„Die sind aber nicht schön, das trage ich bestimmt nicht. Sie würden doch auch kein Hörgerät tragen?!“
Eine Frau die gerade ins Geschäft mit einer Verordnung für eine beidseitige Versorgung mit Hörgeräten gekommen war, fragte mich dies nach einem kurzen Wortwechsel. Es war zwar irgendwie als Frage formuliert, aber eigentlich war es doch eher eine Aussage. Ich war verwundert über diese direkte Art der Ablehnung. Als Hörakustiker, ist man es zwar gewohnt, dass wenige Menschen freudestrahlend mit einer Verordnung vom Hals-Nasen-Ohrenarzt zu einem ins Geschäft kommen, nach dem sie von Ihrer Schwerhörigkeit erfahren haben, aber dieser Satz und die Art wie er ausgesprochen wurde hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich war noch nicht lange ausgelernt und meine Einstellung war sehr idealistisch. Ich war und bin es auch noch heute, begeistert von der technischen Vielfalt der Hörsysteme mit Zubehör und allem drum und dran sowie, den audiologischen und handwerklichen Einflüssen die man auf das gesamte Hörsystem nehmen kann. Ich hatte alles Wissen über aktuelle Features, technische Anpassung und akustische Wirkungen der Otoplastiken verinnerlicht und wollte für jeden das bestmögliche tun um den Alltag zu erleichtern und gleichzeitig das Hören als angenehm und schön empfunden werden sollte.
Bis dahin hatte ich bereits Stunden um Stunden Menschen ihren Hörverlust erklärt. Die daraus entstehenden Folgen und Probleme besprochen und wieder in viele Stunden und gemeinsamer Kleinarbeit die Hörsysteme technisch angepasst. Otoplastiken bearbeitet, um das Hören zu verbessern oder den Tragekomfort zu erhöhen. Unmengen an Anträge an Krankenkassen gestellt und mit Hals-Nasen-Ohrenärzten und Herstellern über die individuellen Schwierigkeiten und Ansprüche der Menschen gesprochen. Ebenso mit Verwandten und Partnern. Das einsetzten geübt und geübt. Das öffnen der Batterieklappe und das einsetzten der Batterie immer wieder mit Kunden wiederholt. Ob Jung, ob Alt, ob Sehbehindert oder mit Gicht in den Fingern. Ich habe es gemacht, nicht nur weil es der Beruf war den ich lernen wollte und gelernt habe, nein weil ich wirklich wollte dass jeder einzelne mit seinem persönlichen Hörsystem zurecht kommt. Und dann glaubte wirklich jemand ich würde aus Eitelkeit kein Hörgerät tragen, wenn ich eins bräuchte?
Unwissenheit, Angst, Scham oder Skepsis
Mir ist bewusst das viele Menschen bevor Sie oder eine nachstehende Person betroffen sind, sich mit dem Thema wahrscheinlich wenig beschäftigt. Und vielleicht irgendwo, irgendwen kennen der ein Hörgerät hat, aber mehr Berührungspunkte gibt es häufig nicht. Aber das sehr viele Menschen eine unversorgten Hörverlust haben aus Unwissenheit, Angst, Scham oder Skepsis kommt wenigen in den Sinn. Es gehört auch der Wille etwas zu verändern dazu und ein bisschen Durchhaltevermögen, denn eine Versorgung mit einem Hörsystem gleich eher einem Dauerlauf als einem Sprint. Denn es muss immer mal wieder nachjustiert und optimiert werden. Denn wir verändern uns mit der Zeit und mit uns, unser Gehirn und unser Gehör. Und leider ist es auch nicht so, dass ein Hörverlust der sich häufig über Jahre entwickelt innerhalb von ein paar Tagen technisch komplett ausgleichen lässt. Das Gehirn und wir Menschen sind zwar flexibler als man vielleicht glaubt, aber Veränderungen brauchen dennoch Zeit. Möchten wir eine Sprache lerne, dann müssen wir uns Zeit nehmen. Das Gehirn muss alles verarbeiten lernen und neu abspeichern. Und in kleinen Schritten lernen wir immer mehr und das Sprechen und Verstehen fällt immer leichter. So ähnlich ist es mit einem Hörsystem.
Würden Sie eine Hörhilfe tragen, wenn Sie eine bräuchten?
Ich kann diese Frage mit einem klaren Ja beantworten. Denn ich bin mir nicht nur bewusst welche faszinierende Technik dahinter steckt, sondern auch welches Privileg es ist den Zugang zu einem Hörsystem zu haben. Ob leichte, mittlere, hochgradige Schwerhörigkeit, an Taubheit grenzend oder Taub. Für die meisten Menschen in der westlichen Welt gibt es eine Möglichkeit wieder oder überhaupt zu hören. Ich bin natürlich sehr froh darüber das mein Gehör aktuell intakt ist und wünsche mir dass es so bleibt, aber für die Möglichkeit jederzeit Hilfe bekommen zu können, sollte es nötig werden, bin ich sehr dankbar.
Noch ein paar Fakten:
Weltweit sind rund 466 Millionen Menschen von Hörverlust betroffen und darunter sind ca. 34 Millionen Kinder (Quelle: WHO, 2018). Rund die Hälfte der Fälle liesse sich durch Prävention vermeiden.
80 Prozent der Menschen mit Hörverlust leben in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen und haben oft keinen Zugang zu audiologischer und medizinischer Versorgung. So trägt in Ländern mit niedrigem Einkommen nur einer von vierzig Menschen mit Hörverlust ein Hörgerät.
Die Folgen sind gravierend: Speziell in diesen Regionen haben Kinder mit einem unversorgten Hörverlust kaum Zukunftsperspektiven, da sie Probleme beim Erlernen von Sprachen aufweisen und somit nur geringe Chancen auf Schulbildung und eine altersgerechte Entwicklung haben. Hörgeräte sowie eine audiologische und medizinische Versorgung würden hier Abhilfe schaffen. Der Zugang dazu bleibt den meisten Familien allerdings verwehrt. (Quelle: hear-the-world.com)